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Verspannungsschaubild bei klaffender Trennfuge

In diesem Artikel wird die Anwendung des Verspannungsschaubildes für die Berechnung vorgespannter Einschraubenverbindungen vorgestellt und diskutiert. Es werden die Einflussparameter auf das Erscheinungsbild des Schaubildes vorgestellt und die relativ engen Grenzen für die Übertragbarkeit auf Schraubverbindungen gezeigt, die von der idealen Belastung unter dem Schraubenkopf abweichen.

Zweck des Verspannungsschaubildes

Mithilfe des Verspannungsschaubildes lassen sich mehrere Kenngrößen der Beanspruchung einer Schraubverbindung ablesen. Dies sind unter anderem die Restklemmkraft in der Trennfuge und der auf die Schraube wirkende Anteil der axialen Betriebskraft.

Es lässt sich ablesen, dass bei vorgespannten Schraubverbindungen die äußere Betriebslast nur zu einer geringen Erhöhung der Schraubenlast führt.

Herleitung des idealisierten Verspannungsschaubildes

Beim Vorspannen der Schraube mit der Vorspannkraft FV erfährt diese eine Längenänderung  fSM. Die verspannten Platten werden dabei um den Betrag fPM gestaucht.

Im folgenden Bild wird dies anhand von Federmodellen dargestellt.

Federmodell einer vorgespannten Schraubenverbindung im Ausgangszustand und im Montagezustand

Federmodell einer Schraubverbindung beim Vorspannen, Quelle: VDI 2230 Blatt 1 [1]

Beim Abtragen dieser Größen im Verspannungsdiagramm entsteht folgende Darstellung.

Kraft-Verformungs-Kurve einer vorgespannten Schraubverbindung

Kraft – Verformungskurven, Vorspannung einer Schraubverbindung

Für den späteren Umgang mit dem Schaubild wird die Gerade der verspannten Bauteile so verschoben, dass die oberen Punkte beider Geraden übereinstimmen.

Kraft-Verformungs-Kurve verschoben zur besseren Anwendung

Kraft – Verformungskurven verschoben, Vorspannung einer Schraubverbindung

Beim Auftreten einer äußeren axialen Zugkraft wird die Schraube weiter gelängt. Gleichzeitig werden die verschraubten Platten entspannt. Nach dem Einzeichnen der axialen Zugbelastung FA lassen sich die Schraubenzusatzkraft FSA und die Restklemmkraft FKR ablesen. Die Schraubenzusatzkraft ist der Anteil der Betriebskraft, der von der Schraube übernommen wird. Der restliche Anteil FPA wird von den verspannten Teilen übernommen, solange die Verbindung nicht abhebt. Die Kraftverhältnisse unter äußerer Zugbelastung sind im folgenden Diagramm dargestellt.

Verspannungsschaubild einer Schraubverbindung unter Berücksichtigung der äußeren Belastung

Verspannungsschaubild mit äußerer Belastung

Zu erkennen ist, wie eine angesetzte Betriebskraft FA durch die Steifigkeitsverhältnisse zu einer deutlich geringeren Schraubenzusatzkraft FSA führt.

Dieses Verhalten zeigt sich an zentrisch unter dem Schraubenkopf belasteten Verbindungen. Da die meisten Praxisanwendungen jedoch nicht diesem Ideal entsprechen, wird in der VDI-Richtlinie [1] der Krafteinleitungsfaktor n eingeführt. Somit lassen sich auch Konstruktionen mit unterschiedlichen Krafteinleitungsbedingungen analytisch berechnen. Ein Krafteinleitungsfaktor von n = 1 wird erreicht, wenn die äußere Belastung direkt unter dem Schraubenkopf angreift. Bei Abweichungen davon verringern sich die Werte.

Einflüsse auf Verlauf und Erscheinungsbild des Verspannungsschaubildes

Der Verlauf des Verspannungsschaubildes wird durch verschiedene Parameter beeinflusst. Im Folgenden werden die Einflüsse folgender Parameter dargestellt:

  • Steifigkeit der Schraube und der verspannten Bauteile
  • Vorspannkraft
  • Steifigkeit der im Fluss der äußeren Kraft befindlichen verspannten Bauteile im Umfeld der Schraubverbindung (Krafteinleitung)

Einfluss der Steifigkeiten

Die Steifigkeit der Schraube kann im Wesentlichen durch zwei Maßnahmen verringert werden: Die Verwendung von Dehnhülsen und den Einsatz von Dehnschaftschrauben. Im Verspannungsdiagramm resultiert dies in einer Veränderung des Anstieges der Schraubenkennlinie. Je nachgiebiger eine Schraube ist, desto flacher verläuft ihre Kennlinie. Ebenso verhält es sich mit den verspannten Bauteilen. Auf der folgenden Abbildung sind die Verspannungsschaubilder von drei Varianten der einer Flanschverschraubung dargestellt:

  • Originalvariante (M30-Schraube mit durchgehendem Gewinde)
  • Variante mit Dehnhülse (Vergrößerung der Klemmlänge von 3.3d auf 5·d, Kraftangriff unterhalb der Dehnhülse)
  • Variante mit Taillenschraube (Taillendurchmesser dT = 0.9d3) und Dehnhülse.
Verspannungsschaubild - Untersuchung zum Einfluss der Steifigkeit

Einfluss der Steifigkeiten auf das Verspannungsschaubild

Die Änderung der Anstiege mit veränderter Steifigkeit der Teile lässt sich sowohl bei den Schrauben als auch bei den verspannten Bauteilen erkennen.

Zusätzlich ist ein weiterer Effekt erkennbar: Durch die geringere Vorspannkraft der Taillenschraube sinkt dementsprechend der Schnittpunkt der beiden Kennlinien ab.

Einfluss der Vorspannkraft

Im folgenden Diagramm ist der Effekt der höheren Vorspannkraft dargestellt. Solange die Trennfuge geschlossen bleibt, ändert sich an der Beanspruchung der Schraube durch die äußere Last nichts. Die Schraubenzusatzkraft ist also zunächst unabhängig von der Vorspannung.

Der maßgebliche Unterschied zeigt sich bei steigender Belastung. Die Restklemmkraft der geringer vorgespannten Verbindung reduziert sich durch die Belastung auf null. Im weiteren Verlauf würde die Verbindung klaffen oder komplett abheben. Die Schraubenzusatzkraft FSA weicht dann vom linearen Verlauf ab und erhöht sich mit zunehmender Steigung.

Bei höherer Vorspannung wird die Reserve der Restklemmkraft erhöht. Die Trennfuge fängt entsprechend später an zu klaffen und gewährleistet somit eine lineare Schraubenkraftfunktion über einen weiteren Bereich der Belastung. Hiermit wird der Effekt der höheren Ermüdungsfestigkeit bei größerer Vorspannung begründet.

Verspannungsschaubild - Untersuchung zum Einfluss der Montagevorspannung

Einfluss der Schraubenvorspannung auf das Verspannungsschaubild

Verspannungsschaubild in der Praxis am Beispiel eines Flansches

Die bisher gezeigten Verspannungsschaubilder basieren auf Verbindungen, bei denen die Krafteinleitung direkt unter dem Schraubenkopf stattfindet. In der Praxis sind solche Verbindungen sehr selten.

Im Folgenden werden mithilfe der FEM Verspannungsschaubilder am Beispiel eines Flansches unter Berücksichtigung exzentrischer Belastung und Aufklaffen der Verbindung erzeugt und die Abweichungen zum idealisierten Verspannungsschaubild verdeutlicht.

Das Modell besteht aus einem Segment einer Rohrflanschverbindung. Durch geeignete Randbedingungen verhält sich das Segment wie ein Teilstück einer kompletten Flanschverbindung. Die äußere Belastung erfolgt durch die Mantelzugkraft (resultierend aus Axialkraft oder Biegemoment auf dem Rohr). Diese wird an die Enden der Rohrsegmente angetragen. Die Krafteinleitung erfolgt also nicht direkt unter dem Schraubenkopf, sondern wird durch die Turmwand in die Flansche eingeleitet.

Beispielmodell FEM - Schraubverbindung Doppel-L-Flansch - Geometrie und Krafteinleitung

Beispielmodell, Geometrie und Krafteinleitung

Auf der folgenden Abbildung ist das entsprechende Verspannungsdiagramm dargestellt.

Verspannungsdiagramm des untersuchten FE-Modells

Verspannungsdiagramm des Beispielmodells

Unter Einwirkung der Vorspannung bildet sich zunächst das idealisierte Verspannungsschaubild heraus. Unter Belastung weicht die Kennlinie der verspannten Teile jedoch von der bisherigen Darstellung ab.

Zu Beginn der Belastung kommt es wie erwartet zu einer geringen Kraftzunahme in der Schraube und zunächst zu einer verhältnismäßig großen Entlastung der verspannten Teile. Die Kennlinie der verspannten Teile (orange) fällt in diesem Beispiel bei anfänglicher Belastung nahezu senkrecht ab (Phase 1). Der Winkel zwischen Vorspannungs- und Belastungskennlinie wird umso größer, je weiter die Krafteinleitung von der Schraubenkopfauflage entfernt ist.

Durch die relativ weiche Konstruktion in der Umgebung des Flansches kommt es im weiteren Verlauf der Belastung zum einseitigen Aufklaffen der Verbindung, im Verspannungsschaubild am seitlich abfallenden Verlauf zu erkennen (Phase 2).

Der Übergang in einen waagerechten Verlauf kennzeichnet den Bereich, in dem die Trennfuge über die Schraube hinaus aufklafft. Der Flansch verformt sich zunehmend und stützt sich mit größer werdendem Kraftanteil an der Außenkante ab (Phase 3).

Danach steigt die Kurve an, weil der Druck an der Außenkannte durch die Hebelverhältnisse weiter zunimmt (Phase 4).

Auf der folgenden Abbildung sind die einzelnen Phasen an einem vergrößerten Ausschnitt dargestellt. Es wird deutlich, dass das Entlastungsverhalten der verspannten Bauteile und das Verhalten beim Aufklaffen der Trennfuge bei Verbindungen mit einem Krafteinleitungsfaktor n < 1 durch das idealisierte Verspannungsschaubild nicht dargestellt werden kann.

Detailansicht des Verspannungsschaubildes des Beispielmodells - Erläuterung des Verlaufs

Ausschnitt aus dem Verspannungsdiagramm des Beispielmodells

Einfluss der Krafteinleitung

Im FE-Modell der zuvor gezeigten Flanschverbindung klafft die Trennfuge aufgrund der relativ weichen Konstruktion schon bei relativ geringer äußerer Last. Bei einer steiferen Umgebung reduziert sich der Effekt der exzentrischen Lasteinleitung. Es kommt nach einem großflächigerem Klaffen zum kompletten Abheben der Bauteile voneinander. Dieser Effekt ist im folgenden Diagramm dargestellt. Im entsprechenden FE-Modell wird in der Modellvariante mit Dehnhülse und Taillenschraube die Rohrwand entfernt und durch starre Randbedingungen ersetzt. Weiterhin wird die Flanschblattdicke erhöht. Die Modelle werden in der folgenden Darstellung gegenübergestellt.

Verspannungsschaubild - Untersuchung zum EInfluss der Umgebungssteifigkeit
Verspannungsschaubild - Untersuchung zum EInfluss der Umgebungssteifigkeit

 

Modelle für die Untersuchung des Umgebungssteifigkeitsseinflusses auf das Verspannungsschaubild
Verspannungsschaubild - Umgebungssteifigkeitseinfluss - Ergebnisdarstellung - Vergleich der beiden untersuchten Modelle

Untersuchungen zum Einfluss der Umgebungssteifigkeit

Das rechte Kurvenpaar ergibt sich aus der höheren Steifigkeit der Umgebung und aus der dickeren Flanschgeometrie. Unter Belastung ist der Bereich der linearen Entlastung der Trennfuge deutlicher ausgeprägt. Im Anschluss daran kommt es ebenfalls zum Aufklaffen der Trennfuge. Aufgrund der höheren Steifigkeit der Konstruktion verringert sich die Abstützung über die Außenkante der Flansche mit steigender Belastung. Bei einer weiteren Zunahme der Belastung würde sich die Klemmkraft auf null reduzieren.

Auf den folgenden Abbildungen sind die Drücke auf den Kontaktflächen und die verformte Geometrie dargestellt. Zu erkennen ist der hohe Druck auf der Außenkante beim weicheren Modell, während dieser sich bei der steiferen Version schon fast vollständig abgebaut hat.

Umgebungssteifigkeitsseinflusses - Darstellung der Ergebnisse von Verformung und Trennfugendruck
Umgebungssteifigkeitsseinflusses - Darstellung der Ergebnisse von Verformung und Trennfugendruck

 

Untersuchung des Umgebungssteifigkeitsseinflusses, verformte Struktur und Druck in der Trennfuge

Bei weiterer Versteifung der verspannten Teile zwischen Krafteinleitung und Schraube reduziert sich der Effekt des seitlichen Aufklaffens und die Schraubverbindung nähert sich dem Extremfall „zentrische Krafteinleitung“ an.

Umgekehrt gilt auch, dass der Einfluss der Umgebungskonstruktion sinkt, je näher die Krafteinleitung unter den Schraubenkopf rückt.

Zentrische Belastung

Bei der zentrischen Krafteinleitung erfolgt die Entspannung der verspannten Bauteile bis zum Abheben linear. Der einzige Einflussparameter auf das qualitative Erscheinungsbild des Verspannungsschaubildes ist die Entfernung der Krafteinleitung von der Schraubenkopfauflagefläche.

Für die Erstellung der folgenden Verspannungsschaubilder wird ein rotationssymmetrisches Stück aus dem vorhandenen Flansch geschnitten und an zwei verschiedenen Stellen belastet.

Untersuchung zum Einfluss der Krafteinleitung - Modelldarstellung und Krafteinleitung - Modell 1
Untersuchung zum Einfluss der Krafteinleitung - Modelldarstellung und Krafteinleitung - Modell 2

 

Zentrische Krafteinleitung, links: Krafteinleitung an den Flanschaußenkanten, rechts: Krafteinleitung unter Schraubenkopf und Mutter

Es ergeben sich folgende Verläufe der Verspannungskennlinien:

Untersuchung Krafteinleitungseinfluss - Ergebnisdarstellung - Verspannungsschaubild - Vergleich Modell 1 und Modell 2

Verspannungsschaubild für zentrische Krafteinleitung, links: Krafteinleitung an den Flanschaußenkanten, rechts: Krafteinleitung unter Schraubenkopf und Mutter

Zu erkennen ist wieder der stark abfallende Verlauf, der sich durch die Entlastung der Trennfuge ergibt. Im Gegensatz zu den Beispielen mit exzentrischer Krafteinleitung fällt die Kurve linear bis zum Abheben ab (Restklemmkraft = 0 N). Zwischen Entlastung und Abheben gibt es hier kein Klaffen der Verbindung.

Je weiter die Krafteinleitung von der Schraubenauflage entfernt ist, desto größer ist der Winkel zwischen den Geraden aus Vorspannung und äußerer Belastung der verspannten Bauteile.

Fazit

Die herkömmliche Darstellung des Verspannungsschaubildes ist nur für Verschraubungen mit zentrischer axialer Krafteinleitung unter dem Schraubenkopf gültig.

Bei Abweichungen von diesem Ideal, insbesondere bezüglich des Ortes der Krafteinleitung, ändert sich das Verhalten der verspannten Bauteile unter äußerer Belastung und somit das Erscheinungsbild des Verspannungsdiagrammes. Die VDI-Richtlinie [1] berücksichtigt dies mit dem Einführen eines Krafteinleitungsfaktors zur Berechnung der Schraubenzusatzkraft. Dieser ist nur genau bestimmbar, wenn das Verformungsverhalten der vorgespannten, ansonsten unbelasteten Verbindung bekannt ist. Andernfalls kann dieser mit Hilfe der VDI-Richtlinie [1] abgeschätzt werden.

Die Voraussetzung für eine Berechnung der Schraubenzusatzkraft nach VDI-Richtlinie [1] ist, dass die Verbindung nicht klafft.

Genauere Berechnungen der Schraubenzusatzkraft – auch unter Berücksichtigung klaffender oder abhebender Trennfugen – lassen sich mithilfe numerischer (FEM-) Untersuchungen durchführen, was insbesondere bei kritischen Verbindungen von der VDI-Richtlinie [1] empfohlen wird.

Verspannungsschaubild - Überblick über Kennlinienverläufe unter Berücksichtigung der Belastung

Verschiedene Ausprägungen der Kennlinie der verspannten Platten unter Belastung und Zuordnung der Berechnungsmöglichkeiten

Quellenverzeichnis

[1] VDI 2230 Blatt1: Systematische Berechnung hochbeanspruchter Schraubenverbindungen: Zylindrische Einschraubenverbindungen, Verein deutscher Ingenieure, 2015

Artikel veröffentlicht am 14.04.2020

Martin Lork

Martin Lork
Dipl.-Ing. Maschinenbau
Autor  |  mlork@ing-hanke.de

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